Höllenfahrt und Achterbahn

Geschrieben von Ralph Troppmann am Sonntag, 19. Juli 2020 in Literatur

Beim Lesen pflege ich die Abwechslung zwischen Kunst, Kultur und Bildung, soll heißen: meist wechseln sich Romane, Sach- und Fachbücher sowie der eine oder andere Klassiker bei mir ab. Hier möchte ich nun eine kleine Rezension zweier Sachbücher wagen - der Vorteil dabei: bei Geschichtsbüchern brauche ich mir keine Sorgen um mögliche Spoiler machen...

Im letzten Sommer hatte ich To Hell And Back von Ian Kershaw gelesen, eine geschichtliche Abhandlung über Europa zwischen 1914 und 1949, in diesem Frühsommer habe ich nun den zweiten Teil Achterbahn über die Jahre ab 1950 in Angriff genommen. Dazu nun ein kurzer Bericht.

Ian Kershaw: To Hell And Back. Europe 1914-1949. Penguin: 2016, 592p. (auch auf deutsch erschienen unter dem Tilel Höllensturz, unschlagbar günstig erhältlich bei der bpb.de)
Sir Ian Kershaw ist ausgewiesener Experte insbesondere für die deutsche Geschichte im Nationalsozialismus und hat schon mehrere Werke darüber veröffentlicht. Hier unternimmt er nun den Versuch, im europäischen Kontext die Zustände und Entwicklungen zu schildern, die zum Ersten und schließlich auch zum Zweiten Weltkrieg führten. Er selbst bezeichnet das im Vorwort als seine bisher schwerste Aufgabe, da es sich um sehr komplexe Probleme handelte. Dabei ist das Ziel, ein auf Basis eigener und fremder Forschungen historisch korrektes Abbild zu schaffen und dies gleichzeitig lesbar und verständlich zu gestalten.
Mehrere Karten Europas aus verschiedenen Jahren helfen, die Veränderung der Grenzen währen dieser Zeiten nachzuvollziehen, zum Teil farbige Abbildungen liefern einen weiteren Eindruck. Leider sind die Abbildungen an zwei Abschnitten im Buch zusammengefasst und nicht direkt im Text referenziert, man sollte daher selbst zwischendurch immer mal wieder dorthin blättern um gerade passende Abbildungen anzusehen.
Das Werk beginnt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit kurzen Beschreibungen zur damaligen Situation und der nahezu schon zwangsläufigen Entwicklung zum Krieg. Dieser wird in gebotener Kürze beschrieben, um dann dessen Nachwirkungen sowie den Weg zum befristeten Aufschwung danach zu erläutern. Die Wirtschaftskrise und der Aufstieg des Faschismus führen zum nächsten großen Konflikt, dessen Verlauf ebenfalls knapp aber nicht entstellend aufgeführt ist. Es schließen sich die Entwicklungen kurz nach dem Krieg mit der beginnenden bzw. sich bereits verfestigenden Blockbildung ab. Viel mehr möchte ich zum Inhalt gar nicht schreiben, die geschichtlichen Abläufe sollten in Grundzügen bereits bekannt sein.
Was macht dieses Werk nun besonders, im Vergleich zu Dutzenden anderer Büchern über die Zeit der Weltkriege? Für mich sehr gelungen ist die Integration vieler Aspekte und der Blick über ganz Europa. Es behandelt eben nicht nur die militärischen Themen oder bestimmte politische Aspekte, sondern hat (wenn ich das an dieser Stelle strapazieren darf) "das große Ganze" im Blick. Neben der natürlich maßgeblichen Politik kommen auch wirtschaftliche Entwicklungen ins Bild sowie kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen. Das Ganze fokussiert sich auf die Hauptakteure Deutschland, Frankreich, England, Österreich, Italien und Russland, lässt aber auch die weiteren europäischen Länder und Nationen an relevanten Stellen auftreten und vernachlässigt auch die Weltpolitik nicht (ohne etwa USA, später Japan und China wären Verläufe nur unvollständig wiedergegeben und teilweise nicht nachvollziehbar).
Auch wenn das Buch allein durch den Umfang und die vielen parallelen Entwicklungen keine leichte Lektüre ist, so kenne ich kein anderes, das diese Zeit in diesem Rahmen so kompakt und fundiert darstellt. Ein umfangreicher Index und ein Quellenverzeichnis runden das Werk an und unterstützen eigene Vertiefung zu den Themen.

Daran schließt sich nahtlos das zweite Buch an:
Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. DVA: 2018, 828 S. (im englischen Original: Rollercoaster)
Auf dieses Buch war ich nach dem ersten Teil besonders gespannt, wird doch darin die Entstehung eines (mehr oder weniger) vereinten Europas behandelt, aber auch der kalte Krieg und der Aufschwung des Terrorismus.
Auch hier gab sich der Autor große Mühe, möglichst alle Länder und alle Aspekte des Lebens in Europa in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg so vollständig wie möglich darzustellen und dabei die zentrale Entwicklung nicht aus dem Blick zu verlieren. Auch wenn ich mich zwischendrin immer wieder mal ob der Vielfalt wirklich konzentrieren musste, kann ich dem Autor durchaus bescheinigen, hier gute Arbeit geleistet zu haben.
Der Aufbau ist wieder weitgehend zeitlich orientiert, wobei bestimmte Themen vollständig abgehandelt werden und gelegentlich ein Rücksprung notwendig ist. Viele Namen und Ereignisse erkannte ich aus meiner Kindheit und Jugend in den 1970er bis 1990er Jahren wieder, doch erst durch diese Kontextbildung und die Hintergründe habe ich deren Bedeutung nun vollständig erfasst. Zentrale Punkte sind hier die Bildung des Ostblocks und des westlichen Bündnisses sowie der Beginn und die wechselnde Verschärfung des Kalten Kriegs. Unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen in Westeuropa, besonders der starke Aufschwung Westdeutschlands kommen ausführlich zur Sprache, darauf aufbauend auch die ersten Schritte zu einer europäischen Gemeinschaft. Sehr ausführlich und durchweg nachvollziehbar wird die allmähliche Auflösung der Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten beschrieben, schließlich der "Zusammenbruch" mit dem "Highlight" der deutschen Wiedervereinigung. Schon davor treten erste terroristische Aktivitäten auf, die als neues großes Problem behandelt werden. Parallel fand ein großer Umbruch durch den regionalen Niedergang von Bergbau und Schwerindustrie hin zu Hightech und Dienstleistung statt, die regional entstehenden Separatistenbewegungen sowie die finanziellen und nationalen Auswirkungen einer gemeinsamen Währung bringen weiteren politischen Zündstoff.
Der Weg zur Europäischen Union wird gut skizziert, durch die beschriebene Geschichte lässt sich auch das Zögern bei einer noch engeren politischen Einheit und auch der Austritt Großbritanniens etwas besser verstehen (das Buch endet um 2018, ist also hier noch recht aktuell).
Auch in diesem Buch unterstützen Karten, Abbildungen, ein Index und eine Bibliographie den Leser beim Verstehen und der eventuellen Vertiefung.

Für mich persönlich sind diese beiden Bücher ein Gewinn, trotz mehreren Büchern zu Einzelaspekten habe ich jetzt erst einen guten Gesamtüberblick über viele Entwicklungen und Zusammenhänge bekommen. Ich möchte sie daher empfehlen, auch wenn es kein leichtes Lesevergnügen sein wird.

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